Peter Moeschl
Pre-Prints. Zur bildlichen Wahrnehmung von Texten

Pre-Prints: On the Graphic Perception of Texts

Wenn wir sehen, wenn wir etwas sehen, also gegenständlich wahrnehmen, so interagiert immer schon Sprache mit dem bildlich Erfassten. Nur ein Sagbares – so Gilles Deleuze – wird auch sichtbar, soll heißen: als Gegenstand sichtbar. Derart erscheint uns die Welt auf Grund unseres Sprachvermögens gegenständlich strukturiert und wird von uns als Text gelesen. Hat sich die Welt einmal für uns zu einer gegenständlich geformten zusammengezogen, strukturiert – und das geschieht schon im frühen Kindesalter –, dann ist für unser Sehen, ausgehend von dem Automatismus des für uns gegenständlich Gegebenen, nur mehr der rückwärtsgewandte Weg vom Gegenständlichen zum Nichtgegenständlichen möglich, um sich für Neues zu öffnen. Primär sind wir in unserem synchronen Sehen einem – so könnte man sagen – Sinnterror der Sprache, der Texte, unterworfen und wir müssen es erst wieder lernen, davon abzusehen. Dies steht übrigens – so Helmuth Plessner – im Gegensatz zu unserer diachronen akustischen Wahrnehmung, welche auch im Erwachsenenalter primär nicht gegenständlich ist und wo wir uns immer erst bemühen müssen, gegenständliche Bedeutungen aktiv aufzubauen, zu konstruieren.

Es braucht daher auch nicht zu verwundern, dass in der Kunst, in der unsere Sinnlichkeit aktiv gefordert wird, für den musikalischen Bereich ein Sinn konstruierender Weg, für den bildenden Bereich aber ein den passiv vorgegebenen Sinn dekonstruierender Weg zu beschreiten ist.

Bietet also unsere gegenständlich gesehene Welt mit ihren geschichtenerzählenden Objekten den allgemeinen Angriffspunkt für künstlerische Dekonstruktion in der bildenden Kunst, so hat sich Herwig Steiner in seinen explizit vorgetexteten Textbildern, den „Pre-Prints“, dazu entschlossen, nicht mehr nur, wie bisher in der Malerei üblich, abgebildete Gegenstände zur Sprache kommen zu lassen. Er hat für seine Bilder gedruckte Texte, deren Schriftbild, und zwar vornehmlich kunsttheoretische Abhandlungen und neuerdings auch politische Texte, zum gegenständlichen Ausgangspunkt gewählt. Durch diesen Abstraktionsschritt vom sinntragenden Gegenstand zur direkten Textdarstellung ist Steiner ein neues künstlerisches Wagnis eingegangen: Diese Texte, seien sie nun lesbar oder nicht, verschwinden als Material in den Bildern. Sie können sich nicht – wie abgebildete sinntragende Gegenstände – auf ihre zugleich bildlich erfassbaren Kontexte stützen und sich dadurch inhaltlich behaupten. Sie erscheinen – so könnte man sagen – befreit von ihrem Inhalt (auf den sie ja nur indirekt verweisen können) nur mehr als ein Texthaftes an sich. Sie verleihen, abgehoben von ihrem Inhalt, gleichsam als verschwindender Vermittler, einem Bild seine Gestalt – und das heißt, sie bewirken eine neue, höhere, eine hochgradige vermittelte und ambivalente Gegenständlichkeit, wie sie dem Gestalthaften in der abstrakten Kunst entspricht.

Auffällig an Steiners Bildern ist, bei genügender Distanz betrachtet, ihre außerordentlich dynamische räumliche Wirkung. Sobald wir Abstand gewonnen haben, sobald wir uns von unseren im Bild objektsuchenden und konstruierenden Blicken zu lösen vermögen und ein solch collagenhaftes Bild als Ganzes auf uns wirkt, entfalten sich in ihm die Dimensionen des Raums und bringen den Raum selbst zu einer gegenständlichen Gestalt. Es ist, als läge das so entstehende Gestalthaft-Neue, dieses Abstrakt-Gegenständliche in der raumerzeugenden Wirkung der Bilder. Das aber braucht nicht zu verwundern. Es ist keineswegs so, dass die abstrakte Raumerfassung in einem absoluten, einem ausschließenden Gegensatz zu einer konkreten Gegenstandswahrnehmung stünde. Die sinnliche Abstraktionsleistung der Raumerfassung ist nur die konkrete Folge des Fehlens unmittelbar sichtbar gegebener Gegenstände, sie ist, so könnte man sagen, eine eigene gegenstandkonstruierende sinnliche Leistung unserer Wahrnehmung, wenn auch eine mit negativen Vorzeichen. Derart handelt es sich bei der Raumwahrnehmung – so Georges Didi-Huberman – um die sinnliche Leistung, die Leerformen von Gegenständen, gleichsam ihren Rahmen, herzustellen.

Gegenstände konstituieren sich im Raum, sie besitzen einen Stellenwert in ihm, und es ist fraglich, ob nicht sie es sind, die den Raum erst – sozusagen als ihre eigene Möglichkeitsform – konstituieren. Derart wäre das, was wir als Raum empfinden, der Möglichkeitsraum der Gegenstände, ihre Leer- oder Nullstelle, vergleichbar der Null, die zugleich Zahl ist und deren Fehlen, und die gerade darüber den Stellenwert aller anderen Zahlen bezeichnet.

Das Irritierende an Herwig Steiners Bildern ist aber schließlich, dass hier die Kommunikation zwischen Bild und Text (zwischen Bildgestalt und Textinhalt) nicht symmetrisch und gleichwertig in einem geschlossenen Rahmen, nicht auf gleicher sinnlicher Ebene funktioniert. Hier wird ein bestehender Bruch, der unsere Anschauung generell konstituiert, nicht verleugnet: Bilder als Text lesen, oder Texte als Bilder ansehen, – in dieser und über diese Bruchlinie bewegt sich das Anschauen. Sie markiert die immer wieder neu und aktiv zu ziehenden Grenzen gegenständlicher Wahrnehmung und hält sie im Fluss. Dementsprechend wird dem Betrachter von Steiners Bildern in einem gesteigerten Ausmaß ein permanent zu vollziehender Positionswechsel von dem des Lesenden zu dem des Schauenden und vice versa abverlangt. Diese Bilder bieten dem Betrachter keine übergeordnete Harmonie von Bild und Text an. Sie lassen ihn nicht in einem Standpunkt der Kontemplation zur Ruhe kommen, in denen er beides, Bild und Text, auf einen Nenner bringen könnte. Indem die Bilder solchermaßen über ihre eigene Bildlichkeit hinausweisen, gefährden sie sich in ihrem Wahrgenommenwerden selbst. Sie ermöglichen damit aber neue Dimensionen der Stellungnahme für den Betrachter. Dieser ist dazu aufgefordert, dazu herausgefordert, an der Dynamik der reflexiven Bestimmung von Bild und Text aktiv teilzunehmen.

Peter Moeschl, Pre-Prints. Zur bildlichen Wahrnehmung von Texten, in : Andreas Manak (Hg), Herwig Steiner, Gesetz und Verbrechen, Passagenverlag, Wien 2006

When we see, when we see something, that is, perceive it in a representational way, then language is always already interacting with what is grasped pictorially. Gilles Deleuze’s statement that only that which can be articulated is also visible, should actually state: is visible as an object. Because of our linguistic ability, the world appears to us structured in this representational way and we read it as text. As soon as our world is structured as one that has come together in representational form — and that occurs already in childhood — for our visual perception, starting with the automatic mechanism of making what exists representational, the only possibility to open up to something new is to follow the reverse path from the representational back to the non-representational. With our synchronic visual perception, we are subjected primarily to what one could call the sensory terror of language, of text, and we must first learn to ignore it. According to Helmuth Plessner, this is contrary to our diachronic acoustic perception, which, even in adult years, is not primarily representational: there, we must make an effort to actively develop, to construct, representational meanings.

It should therefore come as no surprise that in art, in which our sensory perception is actively challenged, it is necessary to embark on a sense-constructing path for the musical realm, but for the visual realm, a path of deconstructing the passively pre-set sense.

Our world, seen in a representational way, with its story-telling objects, offers the general starting point for artistic deconstruction in the fine arts; yet Herwig Steiner has decided in his explicitly pre-written text images, the Pre-Prints, to no longer allow only depicted objects to have a say, as hitherto common in painting. As the representational starting point for his pictures, he chooses printed texts, which appear to be typed; selecting mainly art-theoretic treatises and, most recently, also political texts. Through this step of abstracting from sense-bearing object to direct textual depiction, Steiner has entered into a new artistic venture: the materiality of these texts, whether legible or not, disappears in the pictures. They cannot rest —like depicted sense-bearing objects—on their likewise pictorially grasped contexts and thereby claim meaning in terms of content. They now appear, one could say, liberated from their content (to which they can only refer indirectly) as something merely intrinsically text-like. Lifted from their content, they lend a picture of its gestalt, as a vanishing representative, so to speak—which means that they bring about a new, elevated, extremely mediated and ambivalent state of representation, similar to the gestalt-like in abstract art.

Noticeable in Steiner’s pictures, when viewed from a sufficient distance, is their extraordinarily dynamic spatial effect. As soon as we have gained distance, as soon as we are capable of foregoing our gaze that seeks and constructs objects in pictures and instead, allow ourselves to be affected by these collage-like pictures as a whole, they unfold the dimension of space and bring space itself into a representational form. It is as though the new emerging gestalt-like thing, this abstract-object, lies in the pictures’ effect of generating space. But that is really no wonder. In no way does abstract grasping of space present an absolute, mutually exclusive contrast to concrete object perception. The sensory ability to grasp space abstractly is simply the concrete result of the lack of immediate, visible objects. It is, one could say, our perception’s sensory achievement of constructing its own object: even one with negative signs. In this way, according to Georges Didi-Huberman, perceiving space is about the sensory ability to produce the empty forms of objects, their frames, as it were.

Objects constitute themselves in space; they have a status in it, and it is debatable whether they are not what first constitute the space — as their own subjunctive, their own possible form, so to speak. That would mean that what we consider space is the possible space of objects, their voids or null-points, comparable with zero, which is both a number and the lack of one, and that which marks the status of all other numbers.

What is confusing about Herwig Steiner’s pictures is, ultimately, that here communication between picture and text (between picture form and text content) does not function symmetrically and equally in a closed framework, at the same sensory levels. There is no denial here of an existing rift in what generally constitutes our view: reading pictures as text, or seeing texts as pictures—the act of looking at something moves in and over this fault line. It marks the constant new borders of representational perception, which must be actively drawn, and keeps them fluid. Accordingly, those who behold Steiner’s pictures in a more intense way are required to permanently change their position from that of reader to that of beholder and vice versa. These pictures do not offer viewers any superior harmony of picture and text. They do not allow viewers to come to rest at a standpoint of contemplation in which it is possible to bring both picture and text together to one common denominator. In that the pictures make references beyond their own figurativeness, they endanger themselves in their perceived state. However, they thereby enable beholders new dimensions of positions. The observer is invited, challenged, to actively participate in the dynamics of the reflexive determination of image and text.

Translated by Dream Coordination Office (Lisa Rosenblatt und Charlotte Eckler)

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