Kristian Sotriffer
Die sich schließend öffnende Kreisform

Circles that Close and Open Up

Was unser zunächst neutrales Interesse oder interesseloses Wohlgefallen vor Herwig Steiners Kreisbildern nach ersten Abtastversuchen zu steigern imstande ist, liegt an dem, was sich vor unseren Augen zu bewegen, zu dehnen scheint, vor- und zurückspringt, was unsere Wahrnehmung irritiert. Wir erkennen im Abtasten der Kreisform ihr Segmentiertes, ihr Ungleichmäßiges, Unterbrochenes, Abgestuftes, das in gewisser Hinsicht auseinanderfällt und sich doch wieder schließt – den Sehprozeß aber nicht zur Ruhe, ihn nicht zu Ende kommen läßt. Was geht hier vor? Ehe wir uns bewußt machen, welches die Gründe für die Vergeblichkeit der Suche nach dem Inexakten in einer doch offenkundig ausgeklügelt vorhandenen Ordnung sind, erscheint es nützlich, ein wenig auszuholen.

Auf andere Weise als Paul Cézanne, der von einer Erziehung des Auges vor der Natur gesprochen hatte – eine Methode, die Steiner auch zuvor schon gut kannte und praktizierte -, bis es infolge des vielen Sehens und Arbeitens konzentrisch werde, erkundet der Künstler auf seine Weise die simultanéité rythmique als eine zugleich aus Teilen wie Vereinigungen bestehendes Phänomen. Zu seinen Untersuchungen führt ein langer Weg. Er hat ihn nicht erforscht – obwohl er natürlich viel über ihn weiß -, aber bevor wir daran gehen, seine Art des Fahrens mit den Augen zu erkunden, erscheint ein peripherer Hinweis auf historische Untersuchungen des „Urphänomens“ Farbe angebracht. Goethe hatte es aus seiner Abhängigkeit von Licht und Finsternis zu erklären versucht, während Johannes Itten (in Wien, 1916) die geometrische „als reinste, sauberste, klarste“ Form betrachtete, „gepaart mit dem Licht und Schatten der Farbe“.

Im Zusammenhang mit ontologischen, physikalischen, physio- und psychologischen Erfahrungswerten gibt es auf dem Weg, die Gesetzmäßigkeit der Simultankontraste zu erkennen, eine Reihe von Untersuchungen, an denen von Otto Runge bis Robert Delaunay immer wieder vor allem auch Künstler beteiligt waren. Was im Zusammenhang mit der Befreiung der Bildfarbe vor allem von Cézanne ausgeht und die Wirkung der Komplementärfarben als mit Simultankontrasten verwandt auswies (durch die Farbeindrücke hervorgerufen werden, die im Bild selbst materiell nicht vorhanden sind), liegt der optischen Malerei zugrunde, wie sie etwa von Georges Seurat angestrebt worden war. Statt des Sichtbaren untersuchte er die Erregung, die Farbe im Auge bewirkt (und wie wir es vor Steiners Bildern erleben). Michel Eugéne Chevreuls Untersuchungen nach Änderung der Valeurs verschiedener Farben bei simultaner Betrachtung waren solchen physikalisch-physiologischen Untersuchungen, die dann von der Psychologie durch empirische Forschungen erweitert werden sollten, vorangegangen. Chevreuls Farbenlehre hatte den Simultankontrast folgendermaßen definiert: Sehe man zwei gleichfarbige Zonen von verschiedenem, oder zwei verschiedenfarbige Zonen von gleichem Dunkelheitsgrad auf einmal und so dicht benachbart, daß sie an ihren Rändern zusammenstoßen, so nehme das Auge Veränderungen wahr, die sich einerseits auf die Intensität, andererseits auf die Buntwerte der Farbe beziehen. Entscheidend ist, daß verschiedene Farbzonen in enger Nachbarschaft und simultan überblickt ihre Valenzen im Auge ändern. Das Weiß steigert die Intensität einer Farbe, das Schwarz vermindert sie. Ein klares Blau treibt ein benachbartes Gelb ins Orange …

Robert Delaunay nun dehnte das wissenschaftliche Bezugsfeld im Bestreben, eine peinture pure zu erreichen, in ein künstlerisches aus. Innerhalb der Simultankontraste und der Untersuchung warmer Töne, die nach vorn drängen, während kühle zurückweichen, interessierten ihn Geschwindigkeitswerte. Das waren die mouvements lents der compléments und die mouvements vites der dissonances. Genau solche langsameren oder schnelleren Bewegungen nimmt Herwig Steiner zum Anlaß, uns durch seine Sonderart von Farbkreisen, die auf anderen Ordnungen aufgebaut und vor allem durch ihre Brechungen, Destabilisierungen charakterisiert erscheinen, noch etwas anderes ins Bewußtsein zu rufen. Er verläßt das exakte Forschungsfeld – das er im Grunde gar nicht betreten hat – und konfrontiert uns mit sich in der Zeit – ihrer Betrachtung – verändernden, also in Bewegung geratenden Stabilitäten. Das auf eine seiner Kreisbewegungen mit ihren Überlappungen und Einschnitten realer oder durch entsprechende Eingriffe erzeugter Art gerichtete Auge gerät in einen Sog. Es registriert ein Sichausblähen der Fläche, eine Art „Ziehen“ nach vorn und wieder zurück. Die Interruptionen der Farbwege bewirken einen dynamischen, zugleich aber auch gebremsten, rational nicht mehr eindeutig erfaßbaren Ablauf. Das ins Fahren kommende Auge sieht sich zunächst und für kurze Zeit einer klar und fest gefügten Form gegenüber, die jedoch bald in Rotation gerät und die Suche nach einem Fixpunkt, einem ruhenden Pol vergeblich erscheinen läßt. Das dabei seine Rolle spielende destabilisierende Moment ruft – je nachdem, wie lange sich der Blick auf Kreisstrukturen und -fragmente heftet – wechselnde Erscheinungen hervor. Wir sehen nicht mehr, was wir im allgemeinen vor einem Bild als Konstante erfahren (weil wir selbst das sich Bewegende vor unserem Auge grundsätzlich nicht als Veränderung seiner Form empfinden, das Netzhautbild mit einer Art Verrechnungsapparat verbunden ist), sondern wir werden in ein Bild einbezogen, ihm sozusagen ausgeliefert. Schließlich erscheint es uns als eine Form, die eher uns und unseren Blick zu prüfen scheint als wie gewohnt umgekehrt.

Die Ungleichmäßigkeit der sich ineinander schichtenden Kreisformen mit verschieden starken Ausformungen, wechselnden Farbdichten und -schichtungen und deren Interruptionen sind das Resultat eines reagierenden Experimentierens. Herwig Steiner reiht und verbindet die Elemente seiner sich verdünnenden oder erweiternden Kreise oder Kreissegmente zunächst zum Zweck des Überprüfens ihrer Wirkung. Um sie seinen Absichten entsprechend wirken lassen zu können, greift er in die sich ergebenden Abläufe korrigierend und effektsteigernd ein – so lange, bis sich jenes Konzentrat und jene Konstellation einstellt, die für ihn einen möglichen Abschluß ergibt; daß es kein definitiver oder andere Möglichkeiten ausschließender ist, erklärt sich aus den von ihm entwickelten reihenartigen Abläufen bei gleichbleibenden Bildgrößen. Das Resultat, das er jedoch aus seinem sich vorantastenden Vorgehen entwickelt, ist sozusagen ein Duplikat, die „Kopie“ eines aus den Experimenten gewonnenen Endzustands, zu dem ihn ein stufenweises und Zwischenergebnisse mittels der Sofortbildkamera festhaltendes Vorgehen hinführt.

Erst nach seiner Entwicklung über Stufen und „Zustände“ und der Fixierung eines Abschlusses geht der Künstler daran, exakt nachzubilden, was ihm die zuvor gesetzten Schritte und Überlegungen zugetragen haben. Er verfügt nun über ein Feld, auf dem er fortschreiten und den Seriencharakter seiner Bilder zum Zweck des Gewinnens weiterer Erfahrungen vorantreiben kann.

Verglichen mit dem was Steiner zuvor aus der Natur und der sammelnden Beobachtung seines „Materials“ zu gewinnen versucht hatte, erscheinen seine neuen Arbeiten einem völlig anderen Prinzip unterworfen zu sein. Worin sich seine Bestrebungen jedoch mit dem Vorangegangenen decken, ist dort wahrzunehmen, wo sich ein verwandter Vorgang der Verwandelns und Neuorganisierens einstellt. Und zwar in Form eines neugierigen, nach innen dringenden Auges auf der Spur nach Phänomenen, die unseren Erfahrungsbereich nicht nur in ästhetischer Hinsicht erweitern. Es geht dabei nicht um Augentäuschung (oder Verwandtschaften zur sogenannten Op Art) sondern um den „erweiterten Blick“. Der Kreis schließt, und zugleich öffnet er sich. (Jan.1993)

Kristian Sotriffer, Die sich schließend öffnende Kreisform. Über die Recherchen Herwig Steiners, in: Herwig Steiner: Farbstudien, Kat., Wien 1993

Our initial neutral interest or disinterested pleasure in Herwig Steiner’s circular paintings as we stand before them and make our first attempts at perceiving them is heightened by that which seems to be moving and stretching in front of our very eyes, jumping forwards and backwards and irritating our perception. In exploring the circular shape with our eyes we recognize its segmented character, its unevenness and interruptedness which in a way causes it to fall apart while yet coming together again – and which doees not let our examining of the painting reach an end point. What is going on here? Before reflecting upon the reasons for the futility of the search for the inexact in an order which obviously exists in a highly sophisticated form, it seems useful to take a broader view.

In a different way than Paul Cezanne, who spoke of the education of the eye vis-a-vis nature – a method which Steiner knows well and has already used in his previous work – until the constant effort of seeing would make the eye concentric, the artist explores in his own way the simultanéité rythmique as a phenomenon that consists of divisions as well as mergings. The way that has brought him to this point has been a long one. He has not explored it scientifically – although he knows a lot about it -, but before we begin to investigiate his way of traveling with the eyes, a brief consideration of historic investigations of the „primary phenomenon“ of color seems in order. Goethe had tried to explain color with reference to its dependence on light and darkness, while Johannes Itten (in Vienna, 1916) considered the geometric shape to be the „purest, cleanest, clearest, in conjunction with the light and shadow of color“.

In connection with ontological, physical, physiological and psychological experiences there has been a series of investigations in the effort to recognize the principles of simultaneous contrasts, in which many artists have participated, from Otto Runge to Robert Delauney. What started especially with Cezanne in terms of liberating color and showing the effect of complimentary colors to be related to simultaneous contrasts (which produce color impressions that do not exist materally in the picture) eventually led to the „optical painting“ strven for e.g. by Georges Seurat. Instead of investigating the visible he was interested in the experience when looking at Steiner’s paintings).

Such physical and physiological explorations which were subsequently expanded by empirical psychological research had been preceded by Michel Eugène Chevreul’s studies involving changes in the values of various colors when looking at them simultaneously. Chevreul’s color theory had defined simultaneous contrast as follows: when seeing two closely juxtaposed areas of the same color but different values or of different colors and the same value so close together that their edges touch, our eyes perceive changes both in the intensity and in the color value. The decisive feature is that different color zones in close juxtaposition when viewed simultaneously change their valences. White enhances a color’s intensity, while black reduces it. A clear blue e.g. makes a neighboring yellow appear orange …

Robert Delaunay extended the scientific field of reference into an artistic one through his attempt to achieve a peinture pure. Within the simultaneous contrasts and the investigation of warm hues that push forward, while cool ones recede, Delauney was interested in movement values. These were what he called the moumements lents of the compléments and mouvements vites of the dissonances. It is precisely such slower or faster movements which Herwig Steiner uses in order to make us aware of something additional by means of his special kind of color circles that are based on other systems and seem to be characterized above all by their refractions and destabilizations.

Steiner leaves the field of precise scientific research – which indeed he never really entered -, and confronts us with stabilities that change during the time it takes to look at them, i.e. that begin to move. Our eyes when directed at one of his circular movements with their overlappings and incisions, whether real or produced by skilful interventions, are pulled into an eddy, as it were. They register a bulging of the surface, a kind of forward and backward „pull“. The interruptions of the color paths give rise to a process that is at the same time dynamic and slowed down and no longer rationally precisely comprehensible. Our eyes, once they have been put in motion, first and for a shortwhile perceive a clear and firmly established form, which, however, soon begins to rotate, making the search for any fixed point seem futile. The destabilizing element in the painting causes its appearance to change – depending on the length of time we look at the circular structures and fragments. We no longer see what we generally experience as a constant when looking at a painting (since as a basic principle we do not experience that which moves in front of our eyes as a change in its form, since the retinal image is connected with a kind of tallying apparatus); instead we are incorporated into the picture and have to surrender to it. Eventually the picture appears to us as a shape that is testing us and our vision rather than the other way round, as is usual.

The irregularity of the circular shapes that pile into one another with varying degrees of clarity, alternating color densities and layerings, and their interruptions are the result of much responsive experimentation. First Herwig Steiner arranges and connects the elements of his contracting and expanding circles and circle segments to test their effect. In order to achieve the desired effects he then intervenes into the ensuing processes to correct them and heighten their effectiveness – until a concentration and constellation result that for him are a possible termination point: that this is neither definitive nor excludes other possibilities, is evidenced by the serial process with pictures of identical sizes that he has produced. However, the result that he achieves by this carefully advancing process is in a sense a duplicate, the „copy“ of a final state evolved by the experiments and achieved by a stepwise approach that records intermediate stages by means of a polaroid camera.

Once he has gone through these steps and „stages“ and has made his decision in favor of a final state the artist begins to reconstruct accurately what the preceding steps and considerations have yielded. This process provides him with a field in which he can continue and pursue the serial character of his pictures in order to gain further experience.

In comparision to Steiner’s earlier works and what he had sought to gain from nature and the collecting observation of his „material“, his recent works appear to depend on an entirely different principle. However, his efforts do accord with his preceding works in so far as a similar process of transformation and reorganisation is involved. This takes the form of an inquisitive, internally directed search for phenomena that expand our range of experience not only with regard to aesthetics. What is of concern here are not optical illusions (or connections to Op Art) but rather an „expanded view“. He has come full circle while the circle opens up for new explorations.

Translated by Maria E. Clay

@